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Erinnern statt vergessen

Erinnern statt vergessen
Gedanken zum Volkstrauertag

Den Alterungsprozess der Erinnerung nennt man „Vergessen“. Je mehr die Erinnerung altert, desto wahrscheinlicher wird das Vergessen. Erinnerungen verblassen mit der Zeit. Wir spüren es heute am Volkstrauertag. Und wir spüren es Jahr um Jahr etwas mehr. Gerät dieser Tag des Erinnerns an die Kriege der Vergangenheit langsam in Vergessenheit? Wie sollen wir darauf reagieren? Wie auch immer: Eines dürfte uns allen klar sein: Gegen das Vergessen hilft allein eine lebendige Erinnerungskultur. Und die scheint mir wichtig. Letztlich ist ein klares Wissen um die Vergangenheit die beste Lehrstunde in Sachen Zukunft. Wenn man nicht alle Fehler nochmals machen möchte, sollte man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Aber auch aus all dem, was beim Aufbau einer besseren Zukunft geholfen hat.

Am Volkstrauertag geht es um ein hohes Gut: Es geht um den Frieden. Wir gedenken all der Vielen, die sich gegen Unrecht gewehrt und Widerstand geleistet haben. Die Bekannten, aber eben auch die vielen Unbekannten. Und wir denken an die unmenschlichen Folgen von Krieg und Vertreibung. An die vielen Soldaten, die ihr Leben lassen mussten. Und es waren ja noch mehr, die dann um sie trauerten oder bangten – wenn die Soldaten oft jahrelang als vermisst galten. Wir denken an die Millionen Heimatvertriebenen…

Kann man aus der Geschichte lernen?
Natürlich kann man den Volkstrauertag auch abschaffen. Aber was hat man damit gewonnen – und wieviel verloren? Oder sollte gar Georg Wilhelm Friedrich Hegel recht behalten, der der zu dem Schluss kam: „Wir lernen aus der Geschichte, dass wir überhaupt nichts lernen.“ Eines bleibt dabei klar: Die Zukunft sichern die am besten, die um die Vergangenheit Bescheid wissen. Nur wer bringt sie in Zukunft noch bei? Geschichtslehrer allein reichen da nicht aus. Wir brauchen Zeitzeugen.

Machen wir an dieser Stelle eine Exkursion nach Afrika: In vielen Ländern hat man in den vergangenen Jahrzehnten die Elefantenherden wieder anwachsen lassen. Mit der Folge, dass es am Ende da und dort zu viele wurden. Man gab Elefanten zum Abschluss frei. Und welche wurden zuerst erlegt? Sie ahnen es: die alten. Nachdem die Zahl verringert und das Alter der Herde verjüngt war, passierte etwas Unerwartetes: Die Elefanten taten etwas, das sie zuvor nicht getan hatten: Sie fielen in die Dörfer ein und verwüsteten die Felder. Nach einigem Nachdenken wurde klar, warum: Es waren nur noch die Jungen übrig, ungebändigt. Die Alten waren weg. Und damit ihre Erfahrung, ihre Besonnenheit und ihre natürliche Autorität. Nicht umsonst spricht man vom „Gedächtnis eines Elefanten“. Wieviel dadurch verloren gehen kann, hat man zumindest im Blick auf die afrikanischen Elefanten inzwischen klar erkannt.

Können wir auf die Alten verzichten? Oder sind sie nicht genau darum wichtiger als je zu vor? Als ich einmal mit einem Pfarrer in Afrika gesprochen habe, hat der nur geklagt: Uns fehlen die Alten! Bei einer geringeren Lebenserwartung leuchtet das ein. Aber warum? Darum: Die Älteren, die Betagten haben mehr Erfahrung und oft auch die Weisheit, den Jüngeren beizubringen, worauf es im Leben am Ende wirklich ankommt. Das kann sehr hilfreich sein.

Lebenslinien in die Zukunft
Warum ich das sage? Weil ich viele Menschen zu Grab begleite, die den Krieg noch am eigenen Leib und in ihrer Seele miterlebt haben. Zumeist nicht mehr auf dem Schlachtfeld, aber doch zu Hause: Die Bombeneinschläge, den Hunger und erst recht den Verlust von Angehörigen, die nicht mehr aus dem Krieg heimgekommen sind. Sie mussten schwerste Jahre miteinander durchstehen und dann ist ihnen noch ein Wirtschaftswunder gelungen. Menschen haben zusammengehalten und zusammen geschafft, was keiner ohne die anderen fertiggebracht hätte. Privat, aber auch in vielen Betrieben. Und die Politiker haben sich über Parteien hinweg zusammengerauft, um dem Land ein neues Grundgesetz zu gegeben, das auf christlichen Fundamenten ruht.

Die Kriegsgeneration stirbt langsam aus. Das spüren wir an jedem Volkstrauertag einmal mehr. Was bleibt? Von der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Die nachfolgenden folgenden Generationen nannte man: Die 68-er Generation, 78-Generation, Generation X, Generation Golf, die Zonenkinder, die Mikrogeneration, die Millenials, zurzeit sind wir angelangt bei der Generation Z. Welche Generationen wohl noch kommen werden?

Ein kostbares Vermächtnis
Eines bleibt: die Erfahrung der Kriegs- und Nachkriegsgeneration mit ihren Herausforderungen. Was sie uns mitgeben für die Zukunft?

Es können schwere Zeiten kommen. Da muss man durch. Komme, was wolle. Nicht aufgeben. Durchhalten und Kurshalten. Die Sinnfrage stellt sich damals nicht wirklich, wenn es ums Überleben geht. Die beiden Weltkriege und ihre Folgen relativieren, was wir jetzt als „Katastrophe“ bezeichnen.

Es ist immer eine gute Zukunft möglich, wenn alle an einem Strang ziehen. Gemeinsam schaffen wir viel. Ein wichtiger Hinweis zum Stichwort „Spaltung der Gesellschaft“. Wir brauchen ein gemeinsames Fundament und verbindende und verbindliche gesellschaftliche Werte. Die Wertedebatte ist immer von grundlegender Bedeutung.

Und dann ist da eben die Fähigkeit zur Erinnerung. Wenn wir nur zukunftsorientiert sind, werden wir viele Erfahrungen wieder machen müssen, die wir mit einer guten Erinnerungskultur vermeiden könnten.

Wer glaubt, das interessiere die Jugend nicht, der sollte einmal zuhören, wenn Oma und Opa den Enkeln von früher erzählen. Dazu möchte ich heute am Volkstrauertag auch ermutigen. Die Zeitzeugen von damals. Erzählen Sie von ihren Erlebnissen, teilen Sie Ihre Lebenserfahrung. Sie ist von unwiederholbarem und unschätzbarem Wert.

Geschichte ist nicht von gestern. Geschichte ist etwas für morgen. Vorausgesetzt, wir vergessen sie nicht und sind willens und bereit, unsere Schlüsse daraus zu ziehen. Genau dafür war und ist der Volkstrauertag auch gedacht.

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