Papst Franziskus: „Querida Amazonia“ – Visionen für Amazonien
Papst Franziskus: „Querida Amazonia“ – Visionen für Amazonien
Das Amazonasgebiet ist eine länderübergreifende Lebensregion an der neun Länder teilhaben: von Brasilien bis Venezuela. Ich richte jedoch dieses Apostolische Schreiben an die ganze Welt.
Ich träume von einem Amazonien, das für die Rechte der Ärmsten, der ursprünglichen Völker gefördert wird.
Ich träume von einem Amazonien, das seinen charakteristischen kulturellen Reichtum bewahrt.
Ich träume von einem Amazonien, das die überwältigende Schönheit der Natur eifersüchtig hütet.
Ich träume von christlichen Gemeinschaften, die der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken.
EINE SOZIALE VISION
Unsere Vision ist ein Amazonien, das alle seine Bewohner integriert und fördert, damit sie das „buen vivir“ – das „Gute Leben“ – dauerhaft verwirklichen können. Es nützt uns nicht ein Naturschutz, »der sich zwar um das Biom sorgt, aber die Völker Amazoniens außer Acht lässt«.
Die kolonisatorischen Interessen waren und sind der Grund für eine – legale und illegale – Ausweitung der Holzgewinnung und des Bergbaus; sie haben die indigenen Völker, die Flussanrainer und die afrikanischstämmige Bevölkerung vertrieben oder umringt. Dies hat die jüngsten Migrationsbewegungen der Indigenen zu den Peripherien der Städte befeuert. In diesen Städten, die von einer großen Ungleichheit geprägt sind, wohnt der Großteil der Bevölkerung Amazoniens.
Sehr oft haben die ursprünglichen Völker der Zerstörung der Umwelt ohnmächtig zusehen müssen, die ihnen Nahrung, Heilung und Überleben bot und die es ihnen möglich machte, einen Lebensstil und eine Kultur zu bewahren, die ihnen Identität und Sinn gab. Die Schwachen haben keine Mittel, um sich zu verteidigen »Die armen Völker werden dabei immer ärmer, die reichen immer reicher«. Dies wird von schweren Menschenrechtsverletzungen und von neuen Arten der Sklaverei vor allem gegenüber den Frauen begleitet.
Es ist nicht gesund, wenn wir uns an das Böse gewöhnen. Eine solche Geschichte von Leid und Missachtung heilt nicht leicht. Die Herausforderung besteht […] darin, eine Globalisierung in Solidarität, eine Globalisierung ohne Ausgrenzung zu sichern« Gleichzeitig muss den Indigenen und den Ärmsten eine angemessene Bildung sichergestellt werden, die ihre Begabungen fördert und ihnen weitere Chancen bietet.
Bei den ursprünglichen Völkern Amazoniens besteht ein starker Gemeinschaftssinn. Auf diese Weise leben sie »Arbeit und Ruhe, menschliche Beziehungen, Riten und Feiern. Alles wird miteinander geteilt. Die menschlichen Beziehungen werden von der Natur um sie herum geprägt. Dies verstärkt dann noch die zerrüttende Wirkung der Entwurzelung, welche die Indigenen erfahren, die sich zum Wegzug in die Städte gezwungen sehen.
Das Vertrauen in die Institutionen und deren Repräsentanten geht verloren; Politik und gesellschaftliche Organisationen werden völlig diskreditiert. Die Völker Amazoniens selbst bleiben von der Korruption auch nicht verschont, und werden schließlich ihre Hauptopfer«.
Amazonien sollte auch ein Ort für den sozialen Dialog sein, vor allem zwischen den verschiedenen ursprünglichen Völkern. Sie sind die Hauptgesprächspartner. Es geht darum, den anderen „als anderen“ anzuerkennen und mit seinem Empfinden, mit seinen ganz persönlichen Entscheidungen und seiner Lebens- und Arbeitsweise wertzuschätzen.
EINE KULTURELLE VISION
Es geht darum, Amazonien zu fördern; dies bedeutet jedoch nicht, es kulturell zu kolonisieren, sondern ihm dabei zu helfen, das Beste aus sich zu machen.
Man muss vermeiden, sie als „unzivilisierte Wilde“ zu betrachten. Sie sind einfach Träger von anderen Kulturen und anderen Formen der Zivilisation, die in frühen Zeiten zu bemerkenswerten Entwicklungsstufen gelangt sind.
Heute werden viele Menschen durch die fortschreitende Verödung vertrieben. Damit wird die kulturelle Weitergabe einer über Jahrhunderte von Generation zu Generation vermittelten Weisheit unterbrochen. Die menschlichen Gruppen, ihre Lebensweise und Weltanschauung sind so vielfältig wie das Territorium, da sie sich der Geographie und ihren Ressourcen anpassen mussten. Fischervölker, Völker, die im Landesinneren von der Jagd oder Landwirtschaft leben, und Völker, die Überschwemmungsgebiete bewirtschaften, sind nicht das Gleiche.
Die konsumistische Sicht des Menschen, die durch das Räderwerk der aktuellen globalisierten Wirtschaft angetrieben wird, neigt dazu, die Kulturen gleichförmig zu machen und die große kulturelle Vielfalt, die einen Schatz für die Menschheit darstellt, zu schwächen«. Um diese Dynamik menschlicher Verarmung zu vermeiden, muss man die Wurzeln lieben und pflegen, da sie ein »Bezugspunkt, der uns erlaubt, zu wachsen und auf die neuen Herausforderungen zu antworten«.
Von unseren Wurzeln her sitzen wir am gemeinsamen Tisch, einem Ort des gemeinsamen Gesprächs und der Hoffnung. Die eigene kulturelle Identität wurzelt im Dialog mit denen, die anders sind, und wird durch ihn bereichert.
Die globalisierte Wirtschaft beschädigt den menschlichen, sozialen und kulturellen Reichtum schamlos. Die Auflösung der Familien, die sich ausgehend von der erzwungenen Migration ergibt, zieht auch die Weitergabe der Werte in Mitleidenschaft.
EINE ÖKOLOGISCHE VISION
Wenn aber die althergebrachten Kulturen der ursprünglichen Völker im engen Kontakt mit der natürlichen Umwelt entstanden sind und sich entwickelt haben, so können sie schwer unversehrt bleiben, wenn diese Umwelt Schaden erleidet. In Amazonien versteht man die Worte Benedikts XVI. besser, als er sagte: »Neben der Ökologie der Natur gibt es also auch eine — wie man es ausdrücken könnte — „Humanökologie”, die ihrerseits eine „Sozialökologie“ erfordert. Und das bedeutet, dass sich die Menschheit […] die bestehenden Verbindungen zwischen der Natur-Ökologie — also der Rücksicht auf die Natur — und der auf den Menschen bezogenen Ökologie immer mehr vor Augen halten muss.«
Die Weisheit der ursprünglichen Völker Amazoniens »inspiriert dazu, sorgsam und respektvoll mit der Schöpfung zu leben, im klaren Bewusstsein ihrer Grenzen, das jeden Missbrauch verbietet«.
In Amazonien ist das Wasser König, die Flüsse und Bäche sind wie Adern und jede Form des Lebens hat in ihm seinen Ursprung: »Der Fluss trennt uns nicht, er vereint uns, er hilft uns, unter verschiedenen Kulturen und Sprachen zusammenzuleben«. »Die Welt leidet unter der Verwandlung der Füße in Gummi, der Beine in Leder, des Körpers in Stoff und des Kopfes in Stahl […] Die Welt leidet unter der Verwandlung des Spatens zum Gewehr, des Pfluges zum Kriegspanzer, des Bildes des Sämanns, der aussät, zum Roboter mit seinem Flammenwerfer, aus dessen Saat Wüsten aufsprießen«.
Das Gleichgewicht des Planeten hängt auch von der Gesundheit Amazoniens ab. Es funktioniert als ein großer Kohlendioxydfilter, der hilft, die Erderwärmung zu vermeiden. Wenn der Wald abgeholzt wird, ist er nicht zu ersetzen. Darüber hinaus erweist sich in einem Ökosystem wie dem Amazoniens der Beitrag jedes einzelnen Bestandteils in der Bewahrung des Gesamten als unerlässlich. Die Interessen weniger mächtiger Unternehmen dürften nicht über das Wohl Amazoniens und der gesamten Menschheit gestellt werden.
Um für Amazonien zu sorgen, ist es gut, die Weisheit der Vorfahren mit den heutigen technischen Kenntnissen zu verbinden, wobei immer ein nachhaltiger Umgang mit dem Gebiet zu gewährleisten ist, der zugleich den Lebensstil und die Wertesysteme der Bewohner bewahrt. Die Mächtigsten geben sich niemals mit dem Profit, den sie erzielen, zufrieden. Daher sollten wir alle auf der Dringlichkeit beharren, »ein Rechtssystem zu schaffen, das unüberwindliche Grenzen enthält und den Schutz der Ökosysteme gewährleistet. Über all dies hinaus möchte ich daran erinnern, dass jede der einzelnen Arten einen Wert für sich selbst hat, aber »jedes Jahr verschwinden Tausende Pflanzen- und Tierarten, die wir nicht mehr kennen können, die unsere Kinder nicht mehr sehen können, verloren für immer.
Erwecken wir den ästhetischen und kontemplativen Sinn neu, den Gott in uns gesetzt hat und den wir zuweilen verkümmern lassen. Erinnern wir uns daran: »Wenn jemand nicht lernt innezuhalten, um das Schöne wahrzunehmen und zu würdigen, ist es nicht verwunderlich, dass sich für ihn alles in einen Gegenstand verwandelt, den er gebrauchen oder skrupellos missbrauchen kann.« Es wird keine gesunde und nachhaltige Ökologie geben, die fähig ist, etwas zu verändern, wenn die Personen sich nicht ändern.
EINE KIRCHLICHE VISION
Als Christen verzichten wir nicht auf die Option des Glaubens, die wir aus dem Evangelium empfangen haben. Die echte Option für die Ärmsten und Vergessenen, die uns dazu bewegt, sie von ihrem materiellen Elend zu befreien und ihre Rechte zu verteidigen, beinhaltet gleichzeitig, sie zur Freundschaft mit dem Herrn einzuladen, der ihnen weiterhilft und Würde verleiht.
Um eine erneuerte Inkulturation des Evangeliums in Amazonien zu erreichen, muss die Kirche auf die dort überlieferte Weisheit hören. Die indigenen Völker könnten uns helfen zu erkennen, was eine glückliche Genügsamkeit ist. Sie erfreuen sich an Gottes kleinen Gaben, ohne viele Dinge anzuhäufen, sie zerstören nicht ohne Not, sie bewahren die Ökosysteme und sie erkennen, dass die Erde, die sich als großzügige Quelle zu ihrem Lebensunterhalt verschenkt.
Darüber hinaus ist Inkulturation auch etwas Erhebendes und Erfüllendes. Es geht auch darum, dass diese Beziehung zu dem im Kosmos gegenwärtigen Gott immer mehr zu einer persönlichen Beziehung mit jenem Du wird, das die eigene Wirklichkeit erhält und ihr einen Sinn verleihen will, zu einem Du, das uns kennt und liebt.
Diese Inkulturation muss angesichts der Situation der Armut und Verlassenheit so viele Einwohner Amazoniens notwendigerweise einen ausgesprochen sozialen Charakter haben. Gleichzeitig muss die Inkulturation des Evangeliums in Amazonien das Soziale besser mit dem Geistlichen verbinden, damit die Ärmsten nicht außerhalb der Kirche nach einer Spiritualität suchen müssen, die ihrer Sehnsucht nach dem Transzendenten entspricht.
Die Inkulturation der christlichen Spiritualität in den Kulturen der ursprünglichen Völker findet in den Sakramenten einen besonders wertvollen Weg, weil in ihnen das Göttliche und das Kosmische, die Gnade und die Schöpfung vereint sind. In der Eucharistie wollte Gott »auf dem Höhepunkt des Geheimnisses der Inkarnation […] durch ein Stückchen Materie in unser Innerstes gelangen. […] [Sie] vereint Himmel und Erde, umfasst und durchdringt die gesamte Schöpfung«. Mit dem Sonntag verbindet »die christliche Spiritualität den Wert der Ruhe und des Festes […] Der Mensch neigt dazu, die kontemplative Ruhe auf den Bereich des Unfruchtbaren und Unnötigen herabzusetzen, und vergisst dabei, dass man so dem Werk, das man vollbringt, das Wichtigste nimmt: seinen Sinn.
Die kirchliche Pastoral ist in Amazonien nicht sehr präsent, was zum Teil auf die immense territoriale Ausdehnung mit vielen schwer zugänglichen Orten zurückzuführen ist. Es ist notwendig, dass der kirchliche Dienst so gestaltet wird, dass er einer größeren Häufigkeit der Eucharistiefeier dient, auch bei den Gemeinschaften, die ganz entlegen und verborgen sind. Deshalb ist es wichtig, zu bestimmen, was dem Priester in besonderer Weise zukommt, was nicht delegierbar ist. Die Antwort liegt im heiligen Sakrament der Weihe begründet, das ihn Christus, dem Priester, gleichgestaltet. Und die erste Schlussfolgerung ist, dass dieser ausschließliche Charakter, der in den heiligen Weihen empfangen wird, ihn allein befähigt, der Eucharistie vorzustehen. Auch andere Worte kann nur er sprechen: „Ich spreche dich los von deinen Sünden“.Diese beiden Sakramente bilden die Mitte seiner exklusiven Identität.
Die Laien können das Wort verkünden, unterrichten, ihre Gemeinschaften organisieren, einige Sakramente feiern, verschiedene Ausdrucksformen für die Volksfrömmigkeit entwickeln und die vielfältigen Gaben, die der Geist über sie ausgießt, entfalten. Aber sie brauchen die Feier der Eucharistie.
Eine Kirche mit amazonischen Gesichtszügen erfordert die stabile Präsenz reifer und mit entsprechenden Vollmachten ausgestatteter verantwortlicher Laien, die die Sprachen, Kulturen, geistlichen Erfahrungen sowie die Lebensweise der jeweiligen Gegend kennen und zugleich Raum lassen für die Vielfalt der Gaben, die der Heilige Geist in uns sät. In Amazonien gibt es Gemeinschaften, die lange Zeit hindurch sich gehalten und den Glauben weitergegeben haben, ohne dass dort – manchmal jahrzehntelang – ein Priester vorbeigekommen wäre. Dies ist der Präsenz von starken und engagierten Frauen zu verdanken, die, gewiss berufen und angetrieben vom Heiligen Geist, tauften, Katechesen hielten, den Menschen das Beten beibrachten und missionarisch wirkten. Dies ist eine Einladung an uns, unseren Blick zu weiten, damit unser Verständnis von Kirche nicht auf funktionale Strukturen reduziert wird. Ein solcher Reduktionismus würde uns zu der Annahme veranlassen, dass den Frauen nur dann ein Status in der Kirche und eine größere Beteiligung eingeräumt würden, wenn sie zu den heiligen Weihen zugelassen würden.
Jesus Christus zeigt sich als der Bräutigam der Eucharistie feiernden Gemeinschaft in der Gestalt eines Mannes, der ihr vorsteht als Zeichen des einen Priesters. Dieser Dialog zwischen Bräutigam und Braut, der sich in der Anbetung vollzieht und die Gemeinschaft heiligt, sollte nicht auf einseitige Fragestellungen hinsichtlich der Macht in der Kirche verengt werden.